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SPITZWEGERICH

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HINTERGRUNDINFORMATION & ANEKDOTEN

• Der Spitzwegerich (Plantago lanceolata) ist eine ausdauernde, krautige Pflanzenart der Familie der Wegerichgewächse. Das Wort Wegerich entstammt dem Althochdeutschen wega = Weg und rih - König. Seine Verbreitung erfolgt über die klebrigen Samen, die an Tierpfoten, Schuhen und Rädern haften. Als es noch keine geteerten Straßen gab diente die Pflanze als Wegweiser, da ihr nachgesagt wurde, dass sie nur dort wächst, wo schon jemand oder etwas gelaufen, gefahren oder geritten war – am Wegesrand.

• In der Episode MINNA zeigt ein Foto-Negativ das Bild des ersten Hauses, das die Familie nach der Flucht gebaut hat.

 

• In der gleichen Folge zeigt das Spiegellabyrinth die Arbeit des Künstlers Seamus Farrell mit zwei italienischen Filmtiteln (Der Weg der Arbeiterklasse ins Paradies, 1971, und Les plus belles escroqueries du monde, 1964).

 

• In der Episode FRANZ zeigt die erste Szene im Hintergrund die Raffinerie Heide, wo Franz nach dem Krieg arbeitete.

 

• Die Ertrinkenden-Szene in der gleichen Folge wurde am Frischen Haff gefilmt, wo Flüchtlinge im Winter 1945 während der Eva-kuierung Ostpreußens das gefrorene Haff überquerten. 

Tausende wurden auf dem Weg nach Westen durch Beschuss sowjetischer Kampfflugzeuge getötet oder brachen in das Eis.

• In der Episode KARL sagt der Morse-Code am Anfang wiederholt: "Ich liebe dich – Es tut mir leid – Bitte vergib mir – Danke", während Nachbildungen der Schlacht von Königsberg gezeigt werden (Bunker-Museum, Kaliningrad).

In einer nächsten Szene zieht der Künstler einen Tarnanzug aus der Erde, mit dem Morse-Code: "Wo bist du?"

Die letzte Szene zeigt einen Berg von Schuhen im Konzentrationslager Stutthof, mit dem Atem und Weinen der Künstlerin und dem Morse-Code: "Es tut mir leid – Bitte vergib mir."

 

• Der erste Bericht in der Episode KARL ist einem Buch über die deutsche Luftwaffe entnommen. Das Buch enthält auf seinen Seiten persönliche Anmerkungen von Stenkes Großvater Karl, der Funker bei der Luftwaffe war.

 

• In der letzten Szene der Episode KARL schmilzt der Künstler über dem offiziellen Entlassungsschein von Karl Pistolenprojektile in seiner Hand. Der Schein listet Karls Eigentum zum Zeitpunkt der Ent-lassung auf: ein Hemd, eine Unterhose, ein Paar Socken oder Fusslappen, ein Taschentuch, ein Paar Schnürschuhe; leihweise: Marschanzug bestehend aus Feldmütze, Feldbluse mit Kragenbinde, lange Tuchhose, Koppel m. Schloss.

 

• In der Episode TRUDI erzählt die Russin Vlada, die jetzt auf Schloss Insterburg lebt und es in ein Kulturzentrum und Museum umgewandelt hat, ihre Familiengeschichte. Sie antwortet damit auf die Frage der Künstler, was Heimat für sie bedeutet.

 

• In der gleichen Episode geht der Geiger ins Meer, während die Frau in schwarz sich an einen Baumstamm klammert. Die Szene erinnert an das Massaker von Palmnicken: im letzten großen Naziverbrechens des Holocaust ermordete die SS im Januar 1945 mehr als 3000 Häftlinge des Konzentrationslagers Stutthof, überwiegend junge jüdische Frauen aus Polen und Ungarn. Sie wurden zum Strand gezwungen und mit Maschinengewehrfeuer in die Ostsee gejagt. Wer nicht von Kugeln getroffen wurde, ertrank im eiskalten Wasser.

• Im Epilog wird die Agnus Dei-Liturgie geflüstert. Diese endet mit den Worten dona nobis pacem – "Frieden" ist somit das letzte gesprochene Wort im Film.

DIRECTORS' STATEMENT

 

Die Dringlichkeit, die monatelange Performance-Wanderung zu unternehmen und daraus einen Film entstehen zu lassen, kam nach dem unerwarteten Tod meines Vaters im Jahr 2011. Ich fand mich mit Kisten voller vergilbter Fotos und persönlichen Informationen über meine Familie aus Ostpreußen, deren Tun im Krieg und deren Flucht im Januar 1945 wieder. Gemeinsam mit Andrea stellten wir uns vor, Licht auf diese fragmentierte, nie erzählte Geschichte zu werfen. Hierbei waren wir uns sehr wohl bewusst, dass eine Wiederbesichtigung der Geschichte durch die Erinnerungen einzelner schnell auf falsche Vorstellungen und irreführende Interpretationen hinauslaufen kann. Doch haben persönliche, bruchstückhafte Lebensgeschichten auch das Potenzial, universell zu sein – persönliche Erfahrungen sind wie einzelne Atome der umfassenden Gesamtheit des historischen Kontextes.

In unserer künstlerischen Praxis ist die gelebte Erfahrung ein entscheidender Faktor: als Performance-Künstler erfahren und definieren wir unsere Mitmenschen, Umgebung und uns selbst durch unsere Körper. Um den Film zu verwirklichen, gingen wir somit im Mai-Juni 2015 entlang des Fluchtwegs meiner Familie, dieses Mal jedoch zurück von West nach Ost, genau 70 Jahre später. Auf diesem Weg führten wir Tagebuch über Menschen und Orte; das bildete die Grundlage für den Filmtext, den Bewusstseinsstrom des Dialoges. Wir sammelten Objekte und Originalaufnahmen, und führten ortsspezifische Performances an Originalschauplätzen durch. Unsere Präsenz und Handlungen standen dabei im Dienste des bewegten Bildes. Der Film versammelt in sieben Episoden Splitter der Erinnerung, welche durch die Erscheinungen der Frau in Weiß, der Frau in Schwarz und eines Jedermann verbunden sind. Jede Episode ist von einem meiner Vorfahren inspiriert.

 

Performance-Kunst ist streng linear in der räumlichen und zeitlichen Dimension, und Prozesse erschließen sich – wie im Leben – nur durch das Vergehen der Zeit. Film hingegen kann wie ein Wurmloch fungieren, worin sich die Raumzeit durch das Auflösen trivialer Grenzen verflüchtigt, und wo – wie im Leben – die Prozesse erstaunliche Zusammenhänge zwischen scheinbar getrennten Handlungen und Vorkommnissen offenlegen. Die Kombination dieser beiden Kunstformen – Performance-Kunst und Film – erlaubt es uns somit, die Wahrnehmung der Wirk-lichkeit sowie die Archivierung und Verarbeitung von Infor-mationen in unseren Gedanken, Körpern und Seelen immer wieder in Frage zu stellen.

 

Für uns ist Spitzwegerich eine Gelegenheit, uns im Hier und Jetzt mit der jüngsten Vergangenheit zu beschäftigen, und den notwendigen Dialog zwischen Generationen und Kulturen zu eröffnen. Das 20. Jahrhundert ist geprägt von Völkermorden, Zwangsumsiedlungen und Weltkriegen. Heute sind wir weiterhin Zeugen von globalen Kräften, die sich gegenüber menschlicher Ideale als gleichgültig erweisen. Wir haben jahrzehntelang das Schlimmste über uns gedacht. Doch die Geschichte beweist ebenso, dass trotz unserer Unvoll-kommenheiten das Böse nur dann herrscht, wenn wir es als die Norm verkennen. Der menschliche Geist ist auch der beste Beweis für Güte und Mut.

 

Die Geschichten, die wir uns erzählen – egal ob wahr oder erfunden – sind am Ende immer echt. Erinnerungen prägen diese Geschichten, und bringen sie schließlich in völlig neuen Formen wieder hervor. Es ist, als ob eine neue Generation jeweils das fehlende Stück der vorherigen ist, welche wiederum auf die nächste wartet: eine anhaltende Kontinuität. Wir haben aus der Suche nach Erinnerungen die Bedeutung selbst gemacht, und einen historischen Weg zurückverfolgt. Doch anstatt diesen Weg einfach nur wieder zu gehen, ist es unsere Aufgabe, eben genau hier neu zu starten.

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